Übersetzt von Klaas Dykmann
Im Frühling geschahen viele Dinge. Der Schnee, bedeckt mit einer grauen Ascheschicht der Zementfabrik, war geschmolzen. Die Holzplanken, die als Bürgersteige gedient hatten, waren getrocknet. Von unterhalb der nassen Erde und des Schotters, der überall verstreut war, krochen die Huflattichblumen empor und blühten. Der Graben entlang der Straße füllte sich mit Wasser und Froscheierklumpen. Großmama Olya begann im schmutzigen Boden des Gemüsetopfes zu schürfen. Die Nachbarkinder, mich inbegriffen, spielten Ball in Zhanka und Oksankas Seitenstraße. Um den Tag der Bunten Eier herum machten sich die Familien in den Wald auf: dort, am Flussufer, tranken die Papas Portwein, die Mamas stritten mit ihnen, wir rollten Eier kleine Hügel hinunter und sammelten Schneeglöckchensträuße, die auf der Liste bedrohter Arten stehen (ich war heftig dagegen, aber ich war jünger als alle anderen). Im Frühling feierten wir Papas Geburtstag, Lenins Geburtstag, meinen Geburtstag, den Maifeiertag und den Jahrestag von Tante Tamaras Geburt. Nachdem es regnete roch die Luft nach nassen Pappelbäumen. Das Schuljahr endete.
Das zweitwichtigste Ereignis nach meinem Geburtstag war der Erwerb der Küken. Die Küken, wie alles andere außer Büchern, Zeitungen oder Portwein, wurden von Mama gekauft. Wir nahmen sie mit ins Landhaus, wo diese zu Hennen und einem schlecht gelaunten Hahn wurden, Eier legten und sich nach und nach in der Brühe wiederfanden. Aber bevor sie aufs Land mitgenommen wurden, verbrachten die Küken eine oder zwei Wochen in einer Schachtel in der Küche. Sie waren gelb und flaumig, pickten Weizenkörner, kackten und brachten mich in Ekstase. In Erinnerung daran, anstelle dieses fremdartigen Lehnwortes „Ekstase“, versuche ich zu sagen „Kükenchen!“ Bedauerlicherweise versteht dies nicht jeder auf Anhieb.
In einem Jahr fand der Kauf der Küken am Vorabend des Tages der Bunten Eier statt.
Du musst bedenken, dass Papas im allgemeinen und Papa im besonderen, wenn sie einmal anfingen Portwein zu trinken, meist nicht mehr in der Lage waren, aufzuhören. Sogar solche, die nicht wussten, wie man Lebensmittel einkaufte, wussten, wie man Portwein bekam und sich besoff und in diesem Zustand für zwei, drei oder mehrere Tage ununterbrochen verblieb. Gut möglich, dass dieser Zustand im Vergleich mit der für Papas zugänglichen Realität vorteilhaft war. Noch wahrscheinlicher ist, dass mein Papa diesen Unterschied besonders intensiv verspürte. Vor meiner Geburt schaffte er es 40 Jahre und ein paar mittelgroße Biographien zu leben, von denen alle interessanter waren als die derzeitige.
Als wir aus dem Wald zurückkehrten entschied Papa, dass er allein mit dem Portwein sein wollte und sicherte die Tür von innen, in dem er den Haken in die Öse steckte. Haken können nur von innen aus der Öse entfernt werden. Ich, Mama und die Realität blieben draußen.
All dies war vermutlich ziemlich emotional, ich erinnere mich nicht mehr richtig.
Wie immer gingen wir zu den Nachbarn. Dort konnte ich mit den Nachbarskindern spielen, auf ein anderes Mobiliar schauen und nicht die Kleidung wechseln. Wenn sich Papas Einsamkeit verlängerte, gab es die Gelegenheit zum anderen Ende der Stadt zu Tante Tamara zu gehen und ein Bad in einer richtigen Badewanne zu nehmen, zu tauchen und Blasen zu machen. Im Grunde erinnere ich meine Kindheit nicht als schwierig.
Die schwierige Kindheit gehörte den Küken, die in ihrer Schachtel in unserer Küche blieben.
Die Küken in unserer Küche ließen sich in zwei Typen unterscheiden: normale Hennen und Brathähnchen. Der erste Typ unterschied sich vom zweiten durch kleinere Größe, ein tieferes Gelb und eine größere Überlebensfähigkeit. Sie kamen aus Eiern von wirklichen Hennen aus einem normalen Hennenhaus. Sie hatten keine Angst und pickten alles in ihrer Reichweite. Als erwachsene Hennen legten sie ihre Eier an Orten, wo Landoma Valya sie nicht finden konnte. Im Suppenstadium wandelten sie sich in weniger Fleisch, aber es mag schmackhafteres Fleisch gewesen sein.
Die Brathähnchen kamen zur Welt in einer Legebatterie. Einige von ihnen wuchsen zu großen und dummen Exemplaren heran, die inmitten der Hühner wie Elefanten unter Ponys herumstampften. Aber die meisten Brathähnchen segneten kurz nach dem Kauf das Zeitliche, das heißt krepierten, manchmal sogar schon auf dem Heimweg. Sie, ebenso wie der trunkene Papa, konnten die Realität nicht aushalten.
Ich verstand nicht, warum wir Brathähnchen brauchten, während es normale Küken gab, aber Mama kaufte sie weiterhin, ich muss mich erinnern, sie zu fragen, warum. In jenem Frühling bekam sie beide Sorten, mehrheitlich normale. Die lebendigen kleinen Natürlichen rannten um die anämischen Brathähnchen herum und hoben deren baldiges Ende hervor.
Selbst vor dem Ausflug in den Wald waren die meisten Brathähnchen vor lauter Stress gestorben. Als Papa die Tür verschloss, verblieb nur noch eines der Legebatterien-Kinder unter den Lebenden. Es ist jetzt schwierig, den genauen Ablauf zu rekonstruieren, aber ganz sicher schaute Papa in einem Moment in die Schachtel.
Während es für den Rest der Küken einfach war mit dem Fehlen von Körnern und dem Ausschalten des Heizers zurecht zu kommen, erging es dem letzten Brathähnchen nicht so großartig. Es saß in der Schachtelmitte mit schmerzvoll geschlossenen Augen und reagierte kaum auf Stimuli.
Ich denke, dass Papa auf einer intellektuellen Ebene verstand, dass des Brathähnchens letzte Stunden geschlagen hatten. Jedoch weiß die Geschichte, dass kalte Beurteilung und Verstand es selten vermochten, den edlen Impuls eines Mannes Seele zu unterdrücken.
Papa holte das Küken aus der geteilten Schachtel und brachte es in seinen aus Kunstfell gemachten Winterhut, den er neben die elektrische Heizung stellte. Er machte sie an – eine klassische Stahlplatte, die als Radioteleskop diente, wenn ich in den Weltraum flog. Dann holte Papa die Familien-Erste-Hilfe-Box und legte den Hut mit Verbandmull aus. Sich warm fühlend schien das Küken etwas lebendiger zu werden. Ermutigt streute Papa ein paar Körner auf den Verbandmull, schenkte sich selbst mehr Portwein ein und platzierte seinen Stuhl gegenüber der Heizung. Er wollte den Zustand des Kükens überwachen.
Nahe Mitternacht, nach ein Paar Stunden der Bewachung fühlte Papa, dass das Küken nicht länger namenlos bleiben dürfe.
„Ich nenne dich Sergeant“, sagte Papa.
Wenngleich Sergeant nur ein paar Körner aus dem Mull gepickt hatte und nun einfach dort saß, manchmal seine Augenlider hebend, schaute Papa auf ihn und sah einen Kämpfer – genau wie Papa selbst, der fünf Jahre in der Armee gedient hatte. Er sah diesen Kämpfer inmitten eines Kampfes mit dem Tod. Es schien, dass es niemand ihm nahestehenderen gäbe als Sergeant. Und selbst wenn Sergeant eine künftige Henne war, konnte dies sowieso niemand sagen.
Dann ging der Portwein aus. Papa ging in den anderen Raum, zog sich aus, legte sich hin aufs Sofa und schlief ein.
Am Morgen, als er aufwachte und seinen Weg zum Eingang machte, um in den Eimer unter dem Waschbecken zu pinkeln, war Sergeant bereits tot.
Zu diesem Zeitpunkt frühstückten wir bei den Nachbarn. In Mamas Erinnerung war es ein wolkenverhangender Aprilmorgen. Nach dem Frühstück ging sie auf Erkundungstour und fand Papa auf den Holzplanken sitzend zwischen dem Haus und der Bushaltestelle. Papa war in seiner Unterhose und Hausschuhen. Er hielt seinen Kopf in seinen Händen, seine Arme auf seinen Knien ruhend. Vor ihm waren unsere metallische Kehrichtschaufel und ein schwarzer Fleck frisch geschaufelter Erde.
„Rudya, was fehlt dir?“ fragte Mama verblüfft.
„Sergeant ist gestorben“, schluchzte Papa ohne sie anzuschauen. „Sergeant ist gestorben.“
Er saß noch eine Weile länger auf den Planken – lang genug für mich anzukommen, ihn zu sehen und in meiner Erinnerung das Bild seiner blauen Unterhose und gesenktem Kopf mein ganzes Leben zu behalten, bis zum gegenwärtigen Augenblick.
Später, nachdem wir ans andere Ende der Stadt gezogen waren, machten sie aus unserem alten Haus einen Laden. Sie entfernten die Holzplanken. Sie bedeckten Sergeants Grabstelle mit Kies und versiegelten es mit Zement. Sie trockneten den Graben aus. Nach einigen weiteren Jahren, als all die verbliebenen Teilnehmer der Waldausflüge fortgezogen waren, machte der Laden bankrott.
Und nun geschehen vollkommen andere Dinge im Frühling.
2007
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